Momo – Michael Ende

Momo lebt am Rande einer Grossstadt in den Ruinen eines Amphitheaters. Sie besitzt nichts als das, was sie findet oder was man ihr schenkt, doch sie hat eine aussergewöhnliche Gabe: Sie ist eine wunderbare Zuhörerin. Eines Tages aber treten die grauen Herren auf den Plan. Sie haben es auf die kostbare Lebenszeit der Menschen abgesehen – und Momo ist die Einzige, die ihnen noch Einhalt gebieten kann ... Die struppige kleine Heldin kämpft mit nichts als einer Blume in der Hand und einer Schildkröte unter dem Arm gegen das riesige Heer der „grauen Herrn“. Das Rätsel „Zeit“ selbst ist es, worum es in dieser Geschichte geht. Ein Rätsel, das nachdenkliche Kinder und Erwachsene, die noch nicht verlernt haben, sich über das scheinbar Selbstverständliche zu wundern, gleichermassen beschäftigen kann.

Produktion: Märlitheater Obwalden 2019, Altes Gymnasium Sarnen
Schauspiel: Madlen Arnold, Kai Meier, Walter Hartmann, Karin Dürr, Martina Infanger, Cyrill Hutter, Carla Serschen, Roger Serschen, Chiara Padrone, Lara Disler, Nina Egli, Selma Buser, Stephan Meier, Monika Hug, Petra Lütolf, Vera Lutz
Regie, Theaterfassung: Reto Bernhard
Regieassistenz: Vera Lutz
Musik: Christov Rolla
Bühnenbild: Martina Ehleiter
Kostüme: Brigitte Fries
Maske: Hanni Nievergelt
Requisite: Rahel Schmid
Licht: Markus Schürmann

Fotos: Ingo Höhn

Neue Luzerner Zeitung 02.12.19, Marion Wannemacher

Im Wettlauf gegen die Zeitdiebe
Spannend, anregend und berührend ist «Momo» vom Märlitheater Obwalden. Am Wochenende war Premiere.

 

Sie ist lebhaft, hat blonde Rastazöpfe, lacht gern, liebt Menschen, ist mutig und kann gut zuhören. Das ist Momo im Jahr 2019. «Ich wollte eine starke Momo. Sie muss Widerstand leisten und kann eine Leitfigur sein», betont der Luzerner Regisseur Reto Bernhard. In seiner Hauptdarstellerin, der sehr lebendigen Madlen Arnold, habe er sie gefunden. Sie wird zur ausdrucksstarken Heldin seiner ersten Inszenierung für das Märlitheater Obwalden.

 

Das Smartphone raubt Freude und Freunde

Es ist, als hätte der Autor Michael Ende 1973 in die Zukunft blicken können, als er «Momo» verfasste. Die gesellschaftskritische Geschichte des Mädchens, das in der Ruine eines Amphitheaters wohnt und die Menschen aus der Macht der Zeitdiebe befreit, könnte nicht besser in die heutige Zeit der Digitalisierung und der «Fridays for Future»-Demos passen. Eben noch erfinden die Freunde Sophia (Chiara Padrone), Vanessa (Lara Disler), Luca (Nina Egli) und Jill (Selma Buser) im Spiel mit Momo ein spannendes Schiffsabenteuer, wenig später rauben ihnen Smartphone, Facebook und Fernsehen die Zeit, um die Freundin zu besuchen. Auch ihre Kinder-Demo verhallt ungehört.

Die Menschen um Momo verändern sich: Aus Gigi (Kai Meier), der sein Geld als Fremdenführer mit seinem Erzähltalent verdient, wird Popstar Girolamo. Im Glitzerjackett hetzt er nun von Termin zu Termin, muss immer neue Selfies und Blogeinträge posten. Begleitet wird er von seiner albern geschäftsmässig nickenden Sekretärin (Carla Serschen). Reto Bernhard, der die Bühnenfassung auf Mundart schrieb, hat diese Figur dazu erfunden. Selbst Momos alter Freund Beppo (wunderbar gespielt von Walter Hartmann), der philosophierende Strassenkehrer, wird von den Zeitdieben zum Stress gezwungen.

Die Zeitdiebe, in graue Uniformen gekleidet und auf Hoverboards schwebende menschenähnliche Wesen, wissen genau, wie sie den Menschen die Zeit abluchsen können, um sie fürs eigene Überleben zu benutzen. Mit beeindruckenden Rechnungen erklären sie ihnen erfolgreich, dass Freunde, Geselligkeit und gute Taten reine Zeitverschwendung seien. Es komme darauf an, dass man es im Leben zu etwas bringe. Zufällig fiel die Premiere des Märlitheaters Obwalden auf den «Black Friday», den Festtag des Konsums. Mit einer automatischen Puppe (Lutz Vera) versuchen die Zeitdiebe, Momo zu bestechen. «Bibigirl», eine Persiflage auf Barbie, spult stupide ihren Text ab. Sie steht für den grenzenlosen Konsum, will «immer mehr»: Kleider, Puppenmann, Puppenfreundin und Endlos-Zubehör. Die scharfsinnige Momo bemerkt sofort, was mit ihr los ist: «Ich kann sie nicht lieb haben», stellt sie fest.

 

Temporeiche Inszenierung

Eine Helferfigur, die Schildkröte Kassiopeia (witzig gespielt von Martina Infanger), bringt Momo zu Meister Hora (Karin Dürr). Dieser teilt den Menschen zwar die Zeit zu, was sie jedoch damit anfangen, ist ihre Sache. Gemeinsam hecken Hora und Momo einen Plan gegen die Zeitdiebe aus. Geradezu genial gelingt Regisseur Bernhard der Spannungsbogen. Die Inszenierung ist temporeich, aber nicht atemlos. Einen grossen Anteil daran hat die von Christov Rolla feinfühlig komponierte Musik. Mal treibt sie die Handlung voran, dann wieder schenkt sie besinnliche Momente. Rolla begleitet die Szenen am Rand der Bühne auf Harmonium und Stagepiano. Die optimal eingesetzte Drehbühne von Martina Ehleiter ermöglicht die Verwirklichung vieler Spielorte. Diese wirken durch ihre schlichte Umsetzung. Bezaubernd mutet das Reich von Meister Hora an: Er steht in einer Art Universum aus glänzenden Metallreifen, über ihm der Sternenhimmel. Ein grosses Lob an alle Schauspieler: Jeder einzelne überzeugt in seiner Rolle.

Reto Bernhard gelingt eine stimmige, ergreifende Inszenierung. Er hat das Stück facettenreich angelegt, ohne es zu überfrachten. Auf mehreren Ebenen spricht er Erwachsene und grössere Kinder an. Die Kleineren haben Freude an den originellen Figuren wie der Kassiopeia, die gemächlich mit gestricktem Panzer (bravo, Brigitte Fries, für die Kostüme) auf einem Rollator durch die Welt rollt.